Unsere Clara

 

 

 Wie alles begann

 

Nachdem mein Mann und ich beide jeweils beruflich Fuß gefasst hatten und wir gemeinsam in unserer Freizeit viele Reisen in fremde Länder unternommen hatten, haben wir 2008 beschlossen, eine Familie zu gründen. Im Alter von 38 Jahren brachte ich 2009 unsere Tochter Luise zur Welt. Nachdem dann im August 2013 unsere kleine Clara geboren wurde, schien für meinen Mann und mich das Glück perfekt zu sein. Was konnte man sich mehr wünschen: zwei kleine, süße Töchter, ein wunderschönes Zuhause mit Garten nahe der idyllischen Kleinstadt Gelnhausen und alle in der Familie schienen gesund zu sein. Clara wurde über ein Jahr lang gestillt. Obwohl das erste Jahr mit zwei kleinen Kindern sehr anstrengend war, waren wir glücklich. Ich war dankbar für so viel Glück und hatte insgeheim ein wenig Angst davor, dass dieses Glück einmal getrübt werden könnte. 


  Erste Anzeichen, die wir damals aber nicht erkannten

 

Im Vergleich zu ihrer sehr lebhaften Schwester, die ständig nach Aufmerksamkeit suchte und ständig unterhalten werden wollte, genossen wir es, dass Clara sich stundenlang selbst beschäftigte – es war sehr entspannend. Außer, dass Clara bereits als Baby schlecht einschlafen konnte und manchmal vor dem Einschlafen schrie, bis sie schließlich erbrach, ist uns nichts Ungewöhnliches aufgefallen. Besonders in Erinnerung haben wir, dass sie bereits sehr früh gut mit dem Pinzettengriff greifen konnte. Mit neun Monaten fing Clara an, im Vierfüßlerstand zu wippen. Wir dachten, dass jedes Kind so seine Eigenarten hat und dass dies nur eine vorübergehende Phase sei. Als Clara bei der U 6 noch nicht frei sitzen konnte, so dass die Ärztin „leichte muskuläre Hypotonie“, ansonsten aber „normale Entwicklung“ ins U-Heft eintrug, waren wir noch nicht besorgt. Mit 12 Monaten lernte Clara dann sitzen und krabbeln. Alles war wieder gut.

 

Clara war meistens sehr fröhlich und kontaktfreudig und der Star der Krabbelgruppe: Sie klatschte und wippte zu den dort gesungenen Kinderliedern und war eifrig am Mitmachen; alle Mamas waren entzückt von ihr. Im Alter von 14 Monaten fuhr sie sogar schon Kinderkarussell auf dem Gelnhäuser Schelmenmarkt. Im Alter von ca. 15 Monaten sprach sie erste Worte, wie „Mama“ und „Papa“ und fühlte nach Aufforderung in ihren Fühlbüchern.

   

 

 Die Erkenntnis, es stimmt irgendetwas nicht

 

Nachdem sie sich im Alter von 16 Monaten ständig mit dem ganzen Oberkörper schüttelte, so als ob sie eine Last loswerden wollte, wurden wir skeptisch und gingen erstmals zu einem Kinderneurologen. Der fand dies aber nicht besorgniserregend, auch nicht, dass Clara noch immer alles in den Mund nahm und noch nicht stehen und laufen konnte. Wir wurden als „überbesorgte Eltern“ wieder nach Hause geschickt. Als Clara 19 Monate alt war, mussten wir uns eingestehen, dass ihre Entwicklung inzwischen völlig stehen geblieben war, sie hatte sich einfach nicht weiter entwickelt. Hinzu kam, dass sie sich unkontrolliert nach hinten warf und immer mehr stereotype Wippbewegungen mit dem Oberkörper ausführte. Inzwischen hatte sie auch bereits erworbene Fähigkeiten wieder verloren, wie z.B. die Sprache und das bewusste Klatschen. Erstmals im SPZ Frankfurt Mitte erklärte man uns im April 2015, dass Clara nicht nur eine Entwicklungsverzögerung, sondern eine Entwicklungsstörung habe und mit sehr großer Wahrscheinlichkeit eine Behinderung davon tragen wird. U.a. wurde Clara auch auf Rett-Syndrom getestet. Clara wies zwar die meisten typischen Merkmale des Rett-Syndroms auf, allerdings war sie für ihr Alter überdurchschnittlich groß und hatte einen gesegneten Appetit, so dass wir die Hoffnung hatten, dass es diese schreckliche Krankheit nicht sei. In den folgenden Wochen wurde uns bei allen Aktivitäten, die wir mit Clara vornahmen (Frühförderung, Krabbelgruppe etc.) im Vergleich mit den gleichaltrigen Kindern immer deutlicher, dass Clara auffallende Entwicklungsdefizite aufwies. Das schmerzte sehr und wir waren sehr traurig – schließlich waren unsere Träume für die Zukunft unseres geliebten Kindes zerstört. Gleichzeitig ließen wir nichts unversucht, um Claras Entwicklung voranzutreiben: Neben Ergotherapie und Physiotherapie, die wir jetzt noch weiterführen, suchten wir auch diverse Heilpraktiker, Osteopathen, Augenärzte, Ohrenärzte, Pädaudiologen etc. auf – angetrieben von der Hoffnung, dass Clara die Entwicklungsrückstände doch noch aufholt.

 

 

      Die Diagnose und der Alltag danach

 

Mitte Juni 2015 erhielten wir dann das Ergebnis der genetischen Untersuchung: Unsere Tochter hat das Rett-Syndrom - eine Neumutation des MECP-2-Gens, die erstmals bei Clara aufgetreten ist und – wie der genetische Test bestätigt hat, bei uns Eltern und ihrer Schwester Luise nicht vorhanden ist – eine Laune der Natur – ein Schicksalsschlag! Über uns brach eine Welt zusammen, ich zog mich den ganzen Tag zurück und weinte. Am Abend kam meine fünfjährige Tochter Luise zu mir und beschwerte sich, dass sie noch nichts zu essen bekommen hätte. Von da an nahm ich mir trotz allem Schmerz fest vor, das Beste aus der Situation zu machen und so normal wie möglich den Alltag mit der Familie zu gestalten. Dafür war mir wichtig, zu allererst möglichst viel über die Krankheit zu erfahren. Ich recherchierte im Internet und nahm gleich am zweiten Tag nach der Diagnose telefonisch Kontakt mit einem Eltern-Selbsthilfe-Verein auf. Frau Römer, die Vorsitzende in der Region Rhein-Main, beantwortete voller Mitgefühl meine unzähligen Fragen. Am wichtigsten war es mir zu erfahren, dass ihre Tochter trotz der Krankheit glücklich ist. Das war mir ein sehr großer Trost, denn es ist mir wichtig, dass auch meine Clara glücklich ist. In den darauffolgenden Tagen folgten noch viele weitere Telefonate mit anderen betroffenen Eltern, was mir sehr geholfen hat.

 

Unser Alltag mit Rett-Syndrom ist sehr anstrengend. Clara kann noch nicht laufen (ist aber fleißig am üben), so dass sie viel getragen werden muss. Das ist für mich als Mutter mit chronischen Rückenschmerzen oft eine echte Herausforderung. Wir besuchen viele Therapien, die Claras Entwicklung bereits schon ein Stück weitergebracht haben (2 x wöchentlich Physiotherapie, 1 x Ergotherapie und Frühförderung). Auf Anraten der Therapeuten geht Clara seit kurzem auch täglich für 3 Stunden in unseren integrativen Kindergarten Regenbogenland in Altenhaßlau. Dies macht ihr sehr viel Freude. Die Kinder akzeptieren Clara so wie sie ist und auch die Erzieherinnen geben sich große Mühe, Clara bestmöglich zu integrieren.

 

Wenn Clara nicht einschlafen kann, schreit sie. Manchmal schreit sie sich so in Rage, dass sie anschließend erbricht, was auch besonders für ihre fünfjährige Schwester Luise sehr belastend ist. Glücklicherweise schläft Clara in der Regel nachts durch. Große Menschenansammlungen, Lärm und unregelmäßige Tagesabläufe sind für Clara ein Gräuel und werden mit Schreianfällen quittiert. Ausflüge wie auf einen Jahrmarkt, in einen Freizeitpark etc. sind daher mit Clara derzeit nicht möglich. Für unsere unternehmungslustige und reiselustige Familie sind die Einschränkungen oft sehr schwer.

 

Eines Abends konnte Clara mal wieder nicht einschlafen. Nach stundenlangem Schreien mit anschließendem Erbrechen lag sie dann endlich friedlich schlafend in ihrem Bettchen. Ich stand mit ihrer fünfjährigen Schwester Luise davor und wir betrachteten unseren kleinen schlafenden Schatz. Plötzlich sagte Luise: „Mama, ich habe die Clara so lieb!“ Da war ich sehr gerührt, denn ich musste daran denken, unter welchen Umständen sie das sagt, denn Luise muss im Vergleich zu ihren Altersgenossen viel zurückstecken. Für Luises Bedürfnisse bleibt oft nur wenig Zeit, da wir mit Clara mehrmals in der Woche zu Therapien fahren müssen.  Trotz allem kümmert sich Luise rührend um ihre kleine Schwester und würde mit ihr durch dick und dünn gehen.

 

 

        Clara und ihre Umwelt

 

Auch wenn es im Alltag oft schwer ist, den Interessen beider Mädchen so gut wie möglich gerecht zu werden, haben wir doch das Glück, dass wir hierbei von Oma und Opa tatkräftig unterstützt werden. Obwohl Claras Opa eine schwere Herzoperation hinter sich gebracht hat, ist Claras Oma jederzeit vor Ort, wenn sie gebraucht wird. Außerdem unternehmen die beiden so oft sie können mit Luise altersgerechte Aktivitäten oder betreuen Clara, wenn wir mal mit Luise etwas unternehmen möchten. Für diese selbstlose Unterstützung sind wir sehr dankbar, da sie uns den Alltag sehr erleichtert.

 

Sehr geholfen hat uns auch das Rett-Herbsttreffen in der Region Rhein-Main. Wir haben erstmals andere Rett-Mädchen mit ihren Angehörigen persönlich kennengelernt, vor allem auch die Mütter, die uns im Vorfeld schon telefonisch getröstet und über die Krankheit informiert haben. Die Hilfsbereitschaft der anderen betroffenen Eltern ist enorm. Wir wissen, dass wir mit unseren Problemen und Sorgen nicht allein sind und bei Fragen bzw. Problemen jederzeit Kontakt aufnehmen können. Das beruhigt uns sehr.

 

 

       Das Positive sehen

 

Trotz aller Schwierigkeiten sind wir sehr dankbar für unsere kleine Clara. Clara ist ein wundervolles Mädchen, das alle Herzen erobert. Sie ist sehr lieb und verschmust und ein sehr fröhliches Kind, das sehr viel Lebensfreude ausstrahlt. Ich bin davon überzeugt, dass sie viel mehr versteht, als sie auszudrücken vermag. Ich wünsche mir, dass Clara in unserer Familie glücklich ist und dass wir in unserer Unvollkommenheit ihrer würdig sind.

 

In Kathy Hunters Handbuch zum Rett-Syndrom habe ich ein Zitat gelesen, was ich auf Clara zutreffend finde:

 

„Gott hat uns einen Engel mit einem gebrochenen Flügel geschenkt und unsere Aufgabe ist es, ihn zu pflegen, von Herzen lieb zu haben und ihm ein Lächeln auf sein Gesicht zu zaubern.“

 

Wir hoffen, dass uns dies so gut wie möglich gelingt. Wir lieben unsere beiden Töchter aus ganzem Herzen – egal ob mit oder ohne Rett-Syndrom! Wir würden unsere beiden Mädchen gegen nichts auf dieser Welt eintauschen. Unser größter Wunsch ist, dass Clara laufen lernt und damit bestmögliche Lebensqualität hat. Auch wenn der Alltag oft kräftezehrend ist und von Verzicht geprägt ist und wir körperlich an unseren Grenzen angekommen sind, so gibt uns Clara doch so viel mehr zurück, als wir ihr geben können. Sie verändert vor allem unsere Sichtweise: In ihrer Welt spielen Reichtum, beruflicher Erfolg und Arroganz keine Rolle. Sie macht sich wegen Kleinigkeiten keine Sorgen und freut sich über einfache Dinge - über ein freundliches Gesicht oder eine angenehme Umgebung. Sie schaut auf niemanden herunter und lacht niemanden aus – und wir können das alles von ihr lernen, vor allem die bedingungslose Liebe!

 

 

Oktober 2015, Familie Lindner

 

(für Clara von ihrer Mama)