Fortbildung mit Prof. Dr. med Wilken

 

 

 

 

Am Samstag, 30. April 2022, fand die erste Fortbildung unseres Vereins statt. Über 80 Personen kamen in die Schule am Goldberg in Heusenstamm, um dem deutschlandweit größten Rett-Experten, Prof. Dr. Bernd Wilken vom Klinikum Kassel, zu lauschen.

Alle Eltern, nach Wilkens Aussage selbst Experten für ihre Töchter, und interessierte Betreuerinnen waren von ihm und seinen Ausführungen begeistert.

Zu Beginn seines Vortrags gab Professor Wilken einen kurzen historischen Rückblick. Seine persönlichen Anmerkungen über Kontakte zu Professor Rett, Professor Hanefeld und anderen internationalen Rett-Fachleuten faszinierten die Zuhörer.

 

 

Beim Rett-Syndrom sind mittlerweile drei Varianten klassifiziert:

  • die Zappella-Variante mit einem relativ milden Verlauf, ohne Epilepsie und schwere Skoliose, zum Teil mit Spracherhalt,

  • die Hanefeld-Variante,

  • die Rolando-Variante, beide mit schweren Epilepsie-Verläufen.


Neurologie

Ein Einblick in die Neurologie beim Rett-Syndrom zeigte, daß die Vernetzung der Synapsen (vermutlich seit der Geburt) gestört ist. Trotzdem ist das Gehirn lernfähig und kann mit viel Training und Geduld (Zeit lassen!) viele Fähigkeiten erreichen, die auch erhalten bleiben. Prof. Wilken erklärte den Zuhörern das MeCP2-Gen als sog, „Türöffner-Gen“: es reguliert den Zutritt und die Funktion von über 75 anderen Genen. Durch seine „Fehlfunktion“ sind also zahlreiche andere Gene und Bereiche im Gehirn und Körper betroffen.

 
Orthopädie

Skoliose ist für viele Rett-Mädchen und -Frauen ein großes Problem, dazu gab es viele Fragen an den Professor. Die Zuhörer sahen Bilder von Röntgenaufnahmen der Wirbelsäule vor und nach einer Stabilisierungs-OP. Durch die Skoliose können Organe gequetscht oder verschoben werden. Anhand des Cobb-Winkels im Alter von etwa 10 Jahren ist eine Aussage über die zu erwartende Skoliose mit 16 Jahren möglich.

Zur Behandlung einer Skoliose wird bei einem Cobb-Winkel von 20-40 in erster Linie ein Korsett empfohlen, dies sollte täglich getragen werden, um die nötige Operation (ab50 Grad Cobb) zu verhindern. Wenn sich die Wirbelsäule verfestigt hat (nach Abschluss des Wachstums), ist ein Abtrainieren des Korsetts möglich.

Sehr wichtig ist die frühzeitige Prävention. Bereits ab 3 Jahren sollte die Wirbelsäule regelmäßig kontrolliert und beobachtet werden. Training der Rückenmuskulatur, reiten, schwimmen, Physiotherapie können helfen, den Verlauf zu verlangsamen. Eine wichtige Info für alle Eltern war, die Wirbelsäule nicht im Liegen röntgen zu lassen, sondern im Sitzen oder Stehen. Im Liegen entstehen lt. Prof. Wilken viele Fehldiagnosen.

Weitere orthopädische Komplikationen können idiopathische Frakturen, Hüftluxationen, Dystonien und Spastiken sein. Zur Erhaltung der Knochengesundheit empfiehlt Prof. Wilken allen Rett-Mädchen und -Frauen prophylaktisch Vitamin D3 (1000 iE/Tag).

 

Pubertät

Die Pubertät verläuft laut Prof. Wilken bei Rett-Mädchen sehr ähnlich wie bei anderen Mädchen. Sie setzt etwa im gleichen Alter ein und zeigt Symptome wie bei allen anderen auch.

Prof. Wilken erläuterte ausführlich den Zusammenhang zwischen dem häufig von Geburt an gestörten Serotonin-Rezeptor und anderen Rett-Symptomen wie den Atem-Auffälligkeiten oder depressiven Phasen. Neue Ideen zur Behandlung sind allerdings noch nicht reif für eine Anwendung.

In einer Statistik konnten die Zuhörer sehen, dass die größten Probleme für 6-18jährige Rett-Mädchen die Skoliose und Epilepsie darstellen. Im Erwachsenenalter geht es dann meistens um Verhaltensprobleme.

 

Epilepsie

Ein epileptischer Anfall ist die Folge von plötzlich auftretenden, synchronen elektrischen Entladungen von Nervenzellen (Neuronenverbänden) im Gehirn. Bei 80-85 % aller Rett-Mädchen tritt sie auf, etwa 16 % sind schwierig zu behandelnde Fälle.

Häufig entwickelt sich die Epilepsie schon im frühen Kindheitsalter, manchmal auch erst in den Folgejahren. Nach der Pubertät wird die Wahrscheinlichkeit für diese Erkrankung mit jedem Tag geringer. Auch der Schweregrad geht in dieser Zeit wahrscheinlich zurück. Die gute Nachricht: es gibt keine Verbindung zu bestimmten Mutationen.

Mögliche Therapien sind Medikamente, operative Vagusnerv-Stimulationen, Diäten. Als bewährte und häufig sehr effektive Medikamente nannte Prof. Wilken Carbamazepin, Lamotrigin und Valproinsäure.

Die Behandlung erfolgt nach sehr genauer Beschreibung der epileptischen Anfälle (Videoaufnahmen), laut Prof. Wilken nach folgenden wichtigen Grundsätzen:

  • Individuelles Konzept erarbeiten

  • Immer wieder hinterfragen

  • Geduld

  • Monotherapie (mit EINEM Medikament) anstreben

  • Alternative Ideen entwickeln Nebenwirkungen beachten im Verhältnis zur Wirkung des Medikaments

 
Schlaf

In jedem Alter können Schlafstörungen auftreten. Die Ursachen und Behandlungsmöglichkeiten sind vielfältig. Melatonin hat sich bei Rett-Mädchen und -Frauen als recht erfolgreich erwiesen, es ist auch bei langfristiger Gabe hirnschonend und nebenwirkungsfrei. Die Wirkung setzt nach einigen Tagen ein, bei Retard-Produkten etwas schneller.

 
Unruhe/Agitiertheit

Die Ursachen für die belastende Unruhe ist oft unklar. Meistens tritt sie nur eine begrenzte Zeit auf. Im Rahmen der Regression können sogenannte Schreiattacken auftreten. Auch postpubertäre Unruhe ist möglich. Andere körperliche Ursachen müssen ausgeschlossen werden. Wenn möglich sollten keine Medikamente gegeben werden.

 

Obstipation

Die Ursachen für die häufig auftretende Verstopfung sind vielfältig, u.a. können sind dafür Flüssigkeitsmangel oder Bewegungsmangel verantwortlich sein. Die Therapie sollte individuell erstellt werden. Laut Prof. Wilken hilft z.B. Macrogol/Movicol morgens und Magnesium 100-150 mg am Abend recht gut oder andere alternative Produkte wie z.B. Feigen-Sirup.

 
Unterstützte Kommunikation

Zum Thema UK verwies Prof. Wilken auf die großen Erfahrungen sehr vieler Eltern und Familien und die Möglichkeiten der qualifizierten Weiterbildung, u.a. beim AKUK e.V.

 
Behandlung des Rett-Syndroms

Die Behandlung des Rett-Syndroms hat die Verbesserung der verschiedenen Symptome im Blick.

Die laufenden Studien im Bereich der Forschung zielen auf eine Heilung oder Verbesserung der Lebensqualität.

Eine Behandlung des Rett-Syndroms ist laut Prof. Wilken möglich, aber mit Vorsicht anzugehen. Jüngere Kinder hätten gute Chancen auf Verbesserungen des Krankheitsbilds, bei älteren Rett-Mädchen und -Frauen sind eher Verbesserungen in nur einzelnen Bereichen zu erwarten. Prof. Wilken ging auf die derzeitigen Forschungs-Ansätze ein:

  • Gen-Ersatz

  • Gen-Addition

  • Gen-Inhibition (Inaktivierung des mutierten Gens)

  • Gen-Editing (Veränderung des mutierten Gens).

Nähere Erläuterungen erhielten die Eltern zu den wichtigsten laufenden Forschungs-Projekten: Sarizotan ist eine chemische Verbindung, die sich an Serotonin- und Dopaminrezeptoren im Gehirn bindet. Jedoch musste die Studie abgebrochen werden, da diese keinen Nutzen beim Übertrag auf den Menschen zeigte.

Trofenitide hat in einer Studie an Kindern graduelle Verbesserungen in verschiedenen Bereichen gezeigt, u.a. bei der Epilepsie, jedoch nicht in der Kommunikation, im Verhalten und bei den Handfunktionen. Ein Arzneimittelantrag bei der FDA (US-Arzneimittel-Prüfbehörde) ist für Mitte 2022 geplant.

Anavex 2-73 hat in einer Studie eine Verbesserung der Vernetzung der Synapsen sowie von autismusspezifischen Symptomen gezeigt, wie Stimmung, Atmung, Handfunktionen, Gesichtsbewegungen.

Anavex hat den Fast-Track-Status (für ein beschleunigtes Zulassungsverfahren) und den OrphanDrug-Status (für die Behandlung von Seltenen Krankheiten) der FDA für die Behandlung des RettSyndroms erhalten.

Zwei andere klinische Studien sind bereits evaluiert. L-Carnitin ist seit über 20 Jahren bekannt und zeigt keine Erfolge oder Verbesserungen. Auf der Seite www.clinicaltrials.gov kann man die aktuellen Studien und den Stand der Forschung finden.

Nach dem Ausstieg von Novartis aus der Rett-Forschung Ende 2021 hat die Firma Taysha die Entwicklung und auch zahlreiche Mitarbeiter übernommen. Taysha will Ende 2022/Anfang 2023 in Kanada und Großbritannien das Genersatzprogramm TSHA-102 an jungen Erwachsenen testen, etwa 1,5 Jahre später auch an Kindern. Sollte das Programm erfolgreich sein und durch die amerikanische Arzneimittel-Prüfbehörde FDA zugelassen werden, ist eine Zulassung in Europa durch die EMA 2-3 Monate später möglich. Die Durchführung der Therapie erfordert ein umfangreiches sog. „GenZertifikat“, das das Klinikum Kassel bereits vorlegen kann.

Die Herausforderungen der Gentherapie liegen laut Prof. Wilken darin, den richtigen Zeitpunkt für die Therapie zu finden, eine Überdosierung auszuschließen und das „Ziel“, die richtige Zelle, zu erreichen.

Die zahlreichen Fragen der Eltern konnte Prof. Wilken ausführlich beantworten.

Die 1. Vorsitzende von Rett-Syndrom Südwest e.V., Petra Römer, bedankte sich im Namen aller Familien sehr herzlich für den interessanten Vortrag mit vielen neuen Informationen und wünschte Prof. Wilken alles Gute und eine gute Heimreise.

15.05.2022

Ute Amend und Petra Hämisch

Diese Veranstaltung wurde gefördert durch die AOK – Die Gesundheitskasse in Hessen.